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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 16.04.2003
Aktenzeichen: 19 B 403/03
Rechtsgebiete: SchPflG NRW, VO-SF, GG


Vorschriften:

SchPflG NRW § 7 Abs. 1 Satz 1
SchPflG NRW § 7 Abs. 1 Satz 2
SchPflG NRW § 7 Abs. 2
SchPflG NRW § 7 Abs. 3
SchPflG NRW § 7 Abs. 4
SchPflG NRW § 7 Abs. 5
SchPflG NRW § 7 Abs. 6
SchPflG NRW § 7 Abs. 7
SchPflG NRW § 7 Abs. 8
SchPflG NRW § 7 Abs. 9
SchPflG NRW § 7 Abs. 10
SchPflG NRW § 7 Abs. 3 Satz 1
SchPflG NRW § 7 Abs. 1
SchPflG NRW § 7 Abs. 3 Satz 2
SchPflG NRW § 4 b Abs. 1 Satz 1
VO-SF § 14 Abs. 1
GG Art. 2 Abs. 1
GG Art. 6 Abs. 2 Satz 1
GG Art. 3 Abs. 3 Satz 2
1. Bei schulpflichtigen Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf stehen nach nordrhein-westfälischem Recht die Förderorte allgemeine Schule und Sonderschule gleichrangig nebeneinander.

2. Die nordrhein-westfälischen Schulversuche zur Erprobung einer zieldifferenten Unterrichtung von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in allgemeinen Schulen ist auf der Grundlage des derzeitigen Erkenntnisstandes verfassungsgemäß.

3. Der nordrhein-westfälische Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, für das gesamte Land alle Formen integrativer Beschulung bereitzuhalten.

4. Der Schüler und seine Eltern haben keinen Anspruch auf zur Verfügungstellung einer ihren Wünschen entsprechenden Schule.


Tatbestand:

Der Schüler bedurfte einer sonderpädagogischen Förderung wegen einer geistigen Behinderung. Er beantragte die Beschulung in einer allgemeinen Schule. Das VG lehnte den Antrag des Schülers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab. Das OVG wies die Beschwerde zurück.

Gründe:

Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SchPflG NRW werden Schulpflichtige mit sonderpädagogischem Förderbedarf ihrem individuellen Förderbedarf entsprechend sonderpädagogisch gefördert. Sie erfüllen gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SchPflG NRW die Schulpflicht nach Maßgabe des § 7 Abs. 2 bis 10 SchPflG NRW durch den Besuch einer allgemeinen Schule oder den Besuch einer Sonderschule. Nach diesen Vorschriften kommen abhängig vom individuellen Förderbedarf als geeigneter Förderort für Schulpflichtige mit sonderpädagogischem Förderbedarf sowohl eine allgemeine als auch eine Sonderschule in Betracht. Beide Förderorte stehen nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SchPflG NRW gleichrangig nebeneinander. Ein Ausnahme-Regel-Verhältnis liegt dieser Regelung nicht zu Grunde. Die Entscheidung darüber, ob als geeigneter Förderort eine allgemeine oder eine Sonderschule in Betracht kommt, hängt vielmehr nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SchPflG NRW von dem jeweiligen individuellen Förderbedarf des Schulpflichtigen ab.

Die in § 7 Abs. 1 SchPflG NRW enthaltenen Grundsätze des gleichrangigen Nebeneinanders der Förderorte allgemeine Schule und Sonderschule und der Abhängigkeit des konkreten Förderorts vom individuellen Förderbedarf werden durch § 7 Abs. 3 SchPflG NRW nicht geändert. § 7 Abs. 3 Satz 1 SchPflG NRW betrifft die sog. zielgleiche Unterrichtung von Schulpflichtigen mit sonderpädagogischem Förderbedarf an allgemeinen weiterführenden Schulen. Nach dieser Vorschrift kann in den Sekundarstufen I und II mit Zustimmung des Schulträgers die sonderpädagogische Förderung auch in weiterführenden allgemeinen Schulen erfolgen, wenn die Schulaufsichtsbehörde in dem Verfahren nach § 7 Abs. 5 SchPflG NRW feststellt, dass das Bildungsziel der jeweiligen weiterführenden Schule erreicht werden kann (sog. zielgleicher Unterricht) und die erforderlichen personellen und sächlichen Voraussetzungen vorliegen. Die Regelung in § 7 Abs. 3 Satz 1 SchPflG NRW enthält damit lediglich Voraussetzungen für eine zielgleiche Unterrichtung Schulpflichtiger mit sonderpädagogischem Förderbedarf an einer allgemeinen weiterführenden Schule und lässt die Grundsätze des § 7 Abs. 1 SchPflG NRW unberührt. Letzteres gilt auch in Bezug auf § 7 Abs. 3 Satz 2 SchPflG NRW. Danach wird im Übrigen, also soweit allein eine zieldifferente Unterrichtung in Betracht kommt, die Unterrichtung Schulpflichtiger mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die voraussichtlich das Bildungsziel der allgemeinen Schule nicht erreichen können, in weiterführenden allgemeinen Schulen in Schulversuchen erprobt. Die Grundsätze des § 7 Abs. 1 SchPflG NRW werden damit durch § 7 Abs. 3 Satz 2 SchPflG NRW ebenfalls nicht geändert.

Die Gesetzesmaterialien bestätigen, dass nach dem nordrhein-westfälischen Schulrecht die Förderung von Schulpflichtigen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in allgemeinen Schulen und in Sonderschulen gleichrangig nebeneinander steht. Die geltende Regelung in § 7 Abs. 1 Satz 2 SchPflG NRW entspricht dem am 8.3.1995 vorgelegten Änderungsantrag der SPD-Fraktion, der darauf abzielte, die Förderung von Schulpflichtigen mit sonderpädagogischem Förderbedarf entgegen dem ursprünglichen Gesetzesentwurf der Landesregierung in allgemein bildenden Schulen und in Sonderschulen gleichrangig nebeneinander zu stellen.

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Schule und Weiterbildung, LT-Drs. 11/8638, S. 2, 8, 9 und 10.

Nach dem Gesetzentwurf der Landesregierung sollte § 7 Abs. 1 Satz 2 SchPflG NRW lauten, "sie", d. h. Schulpflichtige mit sonderpädagogischem Förderbedarf, "sind verpflichtet, in der Regel eine Sonderschule zu besuchen". Der Besuch einer Sonderschule sollte damit der Regelfall bleiben und lediglich zusätzlich die Möglichkeit eröffnet werden, Schulpflichtige mit sonderpädagogischem Förderbedarf unter den Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 und Abs. 3 SchPflG NRW in allgemeinen Schulen zu fördern.

Gesetzentwurf der Landesregierung zum Gesetz zur Weiterentwicklung der sonderpädagogischen Förderung, LT-Drs. 11/7186, S. 3 und 8.

Der Landtag ist diesem Gesetzentwurf der Landesregierung nicht gefolgt. Er hat auf Empfehlung des Ausschusses für Schule und Weiterbildung § 7 Abs. 1 Satz 2 SchPflG NRW in der von der SPD-Fraktion vorgeschlagenen Änderung verabschiedet.

Plenarprotokoll des Landtags NRW 11/158, S. 19886.

Nur ergänzend weist der Senat darauf hin, dass seiner Formulierung auf S. 8 des Abdrucks des Beschlusses vom 11.10.1996 - 19 A 4327/96 -, die Festlegung der Sonderschule als Förderort sei "die Regel", nicht, wie der Antragsteller meint, die Auslegung zugrundeliegt, mit Blick auf § 7 Abs. 3 Satz 1 SchPflG NRW sei die Förderung Schulpflichtiger mit sonderpädagogischem Förderbedarf in einer Sonderschule (stets) der Regelfall. Vielmehr hat der Senat auch in seinem Beschluss vom 11.10.1996 darauf abgestellt, dass die Förderung Schulpflichtiger mit sonderpädagogischem Förderbedarf in einer weiterführenden allgemeinen Schule eine "gleichrangige Alternative" darstellt, eine zielgleiche Unterrichtung allerdings gemäß § 7 Abs. 3 Satz 1 SchPflG NRW das Vorliegen der in dieser Regelung genannten Voraussetzungen erfordert.

Fehl geht der Vortrag des Antragstellers, § 7 Abs. 3 Satz 2 SchPflG NRW sei verfassungswidrig, weil eine zieldifferente Unterrichtung Schulpflichtiger mit sonderpädagogischem Förderbedarf lediglich ausnahmsweise im Rahmen von Schulversuchen vorgesehen sei und weil nur für ca. 1 % aller Schulpflichtigen mit sonderpädagogischem Förderbedarf die Möglichkeit der Teilnahme an diesen Schulversuchen eröffnet sei. Dieser Prozentsatz sei so gering, dass eine "realistische Chance" auf Teilnahme an einem derartigen Schulversuch nicht gegeben sei und damit eine "tatsächliche Zugangsverweigerung" vorliege.

Der Gesetzgeber ist mit Rücksicht auf das Recht des Schülers, eine den Anlagen und Befähigungen möglichst weitgehend berücksichtigende Ausbildung zu erhalten (Art. 2 Abs. 1 GG), das Recht der Eltern, den Bildungsweg in der Schule für ihr Kind im Rahmen von dessen Eignung grundsätzlich frei zu wählen (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG), und das Verbot, Behinderte zu benachteiligen (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG), sowie unter Berücksichtigung seines zumindest faktischen Monopols im Bereich der schulischen Erziehung und Bildung grundsätzlich gehalten, für behinderte Kinder und Jugendliche schulische Einrichtungen bereitzuhalten, die auch ihnen eine sachgerechte schulische Erziehung, Bildung und Ausbildung ermöglichen. Art und Intensität der Behinderung sowie den Anforderungen der Schulart und der Unterrichtsstufe ist dabei unter Beachtung des jeweiligen Standes der pädagogisch-wissenschaftlichen Erkenntnis Rechnung zu tragen. Allerdings ist der Gesetzgeber, wenn er sich, wie der nordrhein-westfälische Gesetzgeber, für das Angebot integrativer Beschulung entscheidet, durch Art. 2 Abs. 1, 6 Abs. 2 Satz 1 und 3 Abs. 3 Satz 2 GG nicht verpflichtet, bei der konkreten Ausgestaltung des Angebots alle Formen integrativer Beschulung landesweit bereitzuhalten. Im Rahmen seiner Entscheidungsfreiheit kann er vielmehr von der Einführung solcher Integrationsformen absehen, deren Verwirklichung ihm aus pädagogischen, aber auch aus organisatorischen, personellen und finanziellen Möglichkeiten nicht geeignet erscheint.

BVerfG, Beschluss vom 8.10.1997 - 1 BvR 9/97 -, NJW 1998, 131 (132 f.); OVG NRW, Beschlüsse vom 13.5.2002 - 19 A 3100/01 -, 15.8.2000 - 19 B 989/00 -, und 28.9.1999 - 19 B 1467/99 -.

Dabei steht dem Gesetzgeber für die Beurteilung didaktischer Maßnahmen und ihrer Auswirkungen im pädagogischen Bereich ein weiter Einschätzungsspielraum zu. Abgesehen von äußersten Grenzen, deren Überschreitung verfassungsrechtlich relevant wäre, gibt das Grundgesetz keinen Maßstab für die pädagogische Beurteilung von Schulsystemen.

BVerfG, Urteil vom 6.12.1972 - 1 BvR 230/70 und 95/71 -, BVerfGE 34, 165 (185, 189).

Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist es bei der im vorliegenden Eilverfahren nur möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage mit Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG vereinbar, dass der nordrhein-westfälische Gesetzgeber im Rahmen seiner Entscheidungsfreiheit aus pädagogischen Erwägungen gemäß § 7 Abs. 3 Satz 2 SchPflG NRW die zieldifferente Unterrichtung Schulpflichtiger mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Schulversuchen erprobt und deshalb lediglich einer begrenzten Anzahl Schulpflichtiger mit sonderpädagogischem Förderbedarf die Möglichkeit zur Teilnahme an einem derartigen Schulversuch eröffnet ist.

Nach dem vom Antragsteller angeführten und dem Senat vorliegenden Erfahrungsbericht des Ministeriums für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen vom 19.3.1998 zum Gesetz zur Weiterentwicklung der sonderpädagogischen Förderung in Schulen (im Folgenden: Erfahrungsbericht) fehlten im Zeitpunkt der Erstellung des Erfahrungsberichts die notwendigen Erfahrungen, um abschließende Aussagen zu den Möglichkeiten und Bedingungen eines zieldifferenten gemeinsamen Unterrichts in der Sekundarstufe I machen zu können. Eine besondere Didaktik habe sich im Laufe der bislang durchgeführten Schulversuche noch nicht herausgebildet. Es fehle eine hinreichende Erfahrungsbasis für die Ausgestaltung der Binnenstrukturen des gemeinsamen Unterrichts, insbesondere hinsichtlich der Fragen, in welchen Fächern, bei welchen Unterrichtsgegenständen, in welchen Organisationsformen des Unterrichts gemeinsames Lernen von Behinderten und Nichtbehinderten möglich und in welchen Phasen welcher Fächer eine Trennung notwendig sei. Darüber hinaus habe noch keine ausreichende Zahl von Schülern der Integrationsklassen die Sekundarstufe I vollständig durchlaufen, um die Frage hinreichend beantworten zu können, wie sich der gemeinsame Unterricht auf den weiteren Bildungs- und Lebensweg nach der Sekundarstufe I auswirke.

Erfahrungsbericht, S. 42 bis 48, insbesondere S. 46 f.

Anhaltspunkte dafür, dass nach Erstellung des Erfahrungsberichts bei der weiteren Durchführung der Schulversuche hinreichende Erkenntnisse gewonnen worden sind, um die Möglichkeiten und Bedingungen des zieldifferenten gemeinsamen Unterrichts (nunmehr) hinreichend verlässlich beurteilen zu können, hat der Antragsteller im Beschwerdeverfahren nicht aufgezeigt und sind auch sonst nicht ersichtlich. Die in der Antragsschrift erwähnte Stellungnahme des Referats 712 des Ministeriums für Schule, Wissenschaft und Forschung NRW zum Stand und der weiteren Entwicklung der Integration behinderter Schülerinnen und Schüler ist im Beschwerdeverfahren weder vorgelegt noch ihrem wesentlichen Inhalt nach dargelegt worden. Sie liegt dem Senat auch sonst nicht vor.

Fehlen damit bei summarischer Prüfung weiterhin die notwendigen Erfahrungen, um abschließende Aussagen zu den Möglichkeiten und Bedingungen eines zieldifferenten gemeinsamen Unterrichts in der Sekundarstufe I machen zu können, liegt ein Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1, 6 Abs. 2 Satz 1, 3 Abs. 3 Satz 2 GG nicht darin, dass gemäß § 7 Abs. 3 Satz 2 SchPflG NRW die zieldifferente gemeinsame Unterrichtung lediglich in Schulversuchen erfolgt und dadurch einer nur begrenzten Anzahl von Schulpflichtigen die Möglichkeit zur Teilnahme am zieldifferenten gemeinsamen Unterricht eröffnet ist. Die Frage, ob es für den Fall, dass nach den bei der weiteren Durchführung der Schulversuche gewonnenen Erkenntnissen pädagogische Gesichtspunkte dem Angebot von zieldifferentem Unterricht außerhalb von Schulversuchen nicht entgegenstehen, verfassungsrechtlich zulässig ist, die zieldifferente gemeinsame Unterrichtung weiterhin lediglich in Form von Schulversuchen anzubieten, stellt sich damit nicht. Ebenso bedarf keiner näheren Prüfung, ob die gesetzliche Einführung eines zieldifferenten gemeinsamen Unterrichts außerhalb von Schulversuchen unter organisatorischen, personellen und finanziellen Gesichtspunkten vertretbar erscheint. Schließlich kann dahinstehen, ob die weitere zieldifferente gemeinsame Unterrichtung in Schulversuchen gegen § 4 b Abs. 1 Satz 1 SchVG NRW verstößt. Das könnte der Fall sein, wenn bei der weiteren Durchführung der Schulversuche hinreichende Erfahrungen gesammelt worden sein sollten, um die Möglichkeiten und Bedingungen eines zieldifferenten gemeinsamen Unterrichts in der Sekundarstufe I verlässlich beurteilen zu können. Nach § 4 b Abs. 1 Satz 1 SchVG NRW können nämlich Schulversuche nur zur Erprobung neuer pädagogischer und organisatorischer Inhalte und Formen durchgeführt werden. Mit dieser Regelung dürfte es nicht vereinbar sein, Schulversuche auch dann fortzuführen, wenn bereits ausreichende Erkenntnisse und Erfahrungen gesammelt worden sind.

Der Antragsteller macht auch ohne Erfolg geltend, es sei verfassungsrechtlich ausgeschlossen, Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf ausschließlich in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Behinderung in bestimmten Sonderschuleinrichtungen (Förderschulen) zusammenzufassen, ohne die Möglichkeit einer Differenzierung nach den spezifischen Begabungen und Neigungen dieser Kinder zu ermöglichen. Nach der Rechtsprechung des BVerfG lässt sich zwar nach dem gegenwärtigen pädagogischen Erkenntnisstand ein genereller Ausschluss der Möglichkeiten einer gemeinsamen Erziehung und Unterrichtung von behinderten Schülern mit Nichtbehinderten derzeit verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen.

BVerfG, Beschluss vom 8.10.1997 - 1 BvR 9/97 -, a. a. O. (132).

Das bedeutet jedoch nicht, dass für das gesamte Land NRW und damit auch für den Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners alle Formen integrativer Beschulung bereitgehalten werden müssen. Eine derartige Verpflichtung lässt sich weder, wie bereits ausgeführt, aus Art. 2 Abs. 1, 6 Abs. 2 Satz 1, 3 Abs. 3 Satz 2 GG noch aus der Aufgabe des Staates als Erziehungsträger, das Kind bei der Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der Gemeinschaft zu unterstützen und zu fördern (Art. 7 Abs. 1 GG), herleiten. Diese Aufgabe des Staates als Erziehungsträger verwehrt es ihm, Kinder übermäßig lange in einer Schule mit undifferenziertem Unterricht festzuhalten. Er muss hinreichenden Raum für eine Differenzierung nach der individuellen Leistungsfähigkeit schaffen.

BVerfG, Urteil vom 6.12.1972 - 1 BvR 230/70 und 95/71 -, a. a. O. (187 f.).

Dem hat der nordrhein-westfälische Gesetzgeber dadurch hinreichend Rechnung getragen, dass er die Entscheidung darüber, ob ein Schulpflichtiger mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der allgemeinen Schule oder in einer Sonderschule beschult wird, gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SchulPflG NRW davon abhängig macht, welchen individuellen Förderbedarf der Schulpflichtige hat. Dabei bedeutet die konkrete Entscheidung über den individuellen Förderbedarf und die Festlegung des Förderortes auch nicht, dass mit dieser Entscheidung der weitere Bildungsweg des Schulpflichtigen abschließend bestimmt ist. Die nach § 14 Abs. 1 VO-SF vorgesehene jährliche Überprüfung, ob der festgestellte sonderpädagogische Förderbedarf weiterhin besteht und ob der Besuch einer anderen Schule angebracht ist, lässt hinreichend Raum für die Berücksichtigung der weiteren Entwicklung des Schulpflichtigen.

Allerdings kommt der Staat seiner Aufgabe als Erziehungsträger nicht nach, wenn eine schulische Maßnahme für den Schulpflichtigen mit sonderpädagogischem Förderbedarf - bezogen auf die ganze Persönlichkeit und ihr Verhältnis zur Gemeinschaft - offensichtlich nachteilig sein würde,

BVerfG, Urteil vom 6.12.1972 - 1 BvR 230/70 und 95/71 -, a. a. O. (188 f.).

und liegt ein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG vor, wenn die Überweisung des Kindes in eine Sonderschule den Gegebenheiten und Verhältnissen des Einzelfalls ersichtlich nicht gerecht wird.

BVerfG, Beschluss vom 8.10.1997 - 1 BvR 9/97 -, a. a. O. (133).

Eine solche gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verstoßende Entscheidung ist nicht nur dann anzunehmen, wenn ein Kind oder Jugendlicher wegen seiner Behinderung auf eine Sonderschule verwiesen wird, obwohl seine Erziehung und Unterrichtung an der allgemeinen Schule seinen Fähigkeiten entspräche und ohne besonderen Aufwand möglich wäre. Eine Benachteiligung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG kommt vielmehr auch dann in Betracht, wenn die Sonderschulüberweisung erfolgt, obgleich der Besuch der allgemeinen Schule durch einen vertretbaren Einsatz von sonderpädagogischer Förderung ermöglicht werden könnte. Dabei ist neben der Frage, ob Erziehung und Unterrichtung an der allgemeinen Schule mit sonderpädagogischer Förderung möglich ist, in die erforderliche Gesamtbetrachtung auch einzustellen, ob organisatorische Schwierigkeiten sowie schutzwürdige Belange Dritter, insbesondere anderer Schüler, der integrativen Beschulung nicht entgegenstehen.

BVerfG, Beschluss vom 8.10.1997 - 1 BvR 9/97 -, a. a. O. (133); OVG NRW, Beschlüsse vom 13.5.2002 - 19 A 3100/01 -, und vom 28.9.1999 - 19 B 1467/99 -.

Ausgehend von diesen Erwägungen bestehen bei der im vorliegenden Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die durch Bescheid des Antragsgegners verfügte Überweisung des Antragstellers in eine Schule für Geistigbehinderte dem Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ersichtlich nicht gerecht wird. (Wird ausgeführt.)

Die Rechtmäßigkeit des Bescheides des Antragsgegners wird auch nicht durch den Vortrag des Antragstellers in Frage gestellt, es liege eine Verletzung des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG vor, weil "ein differenziertes und sinnvoll abgestuftes System der Beschulung im Bereich des Antragsgegners nicht vorhanden" sei. Abgesehen davon, dass dem Antragsgegner als für die Entscheidung über den sonderpädagogischen Förderbedarf und den Förderort zuständige Schulaufsichtsbehörde (§ 12 Abs. 1 VO-SF) die (kompetenz-)rechtliche Befugnis für die Schaffung "eines differenzierten und sinnvoll abgestuften Systems der Beschulung" fehlt, lässt sich aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ein Anspruch auf Schaffung eines derartigen "Systems" nicht herleiten. In der Rechtsprechung ist geklärt, dass weder aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG noch aus dem Grundrecht des Schülers gemäß Art. 2 Abs. 1 G auf Erziehung und Bildung ein Anspruch auf Errichtung einer an ihren Wünschen orientierten Schule, hier einer allgemeinen weiterführenden Schule mit sonderpädagogischer Fördergruppe als Teil dieser Schule, hergeleitet werden kann. Der aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG folgende Anspruch der Eltern auf Wahl einer bestimmten Schule bezieht sich nur auf die vom Staat zur Verfügung gestellten Schulen. Das Wahlrecht umfasst jedoch nicht einen Anspruch auf zur Verfügungstellung einer bestimmten, an den Wünschen der Eltern orientierten Schule, was angesichts der Vielfalt elterlicher Bildungsvorstellungen auch nicht praktikabel wäre.

Vgl. nur OVG NRW, Beschluss vom 13.5.2002 - 19 A 3100/01 -, unter Hinweis auf BVerfG, Beschlüsse vom 6.2.1984 - 1 BvR 1204/83 -, NVwZ 1984, 781, vom 24.10.1980 - 1 BvR 471/80 -, NVwZ 1984, 89 (89), und vom 26.2.1980 - 1 BvR 684/78 -, NJW 1980, 2403 (2403); BVerwG, Beschluss vom 13.12.1994 - 6 NB 3.94 -, Buchholz 421, Kultur- und Schulwesen, Nr. 115, S. 10 (13).



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